Gestern dachte ich also: Wie merkwürdig das ist,
dass ich ständig in einem freudigen Rausch lebe – ohne jeden besonderen Grund.
So liege ich zum Beispiel hier in der dunklen Zelle auf einer steinharten
Matratze, um mich im Hause herrscht die übliche Kirchhofstille, man kommt sich
vor wie im Grabe; vom Fenster her zeichnet sich auf der Decke der Reflex der
Laterne, die vor dem Gefängnis die ganze Nacht brennt. Von Zeit zu Zeit hört man
nur ganz dumpf das ferne Rattern eines vorbeigehenden Eisenbahnzuges oder ganz
in der Nähe unter den Fenstern das Räuspern der Schildwache, die in ihren
schweren Stiefeln ein paar Schritte langsam macht, um die steifen Beine zu
bewegen. Der Sand knirscht so hoffnungslos unter diesen Schritten, dass die
ganze Öde und Ausweglosigkeit des Daseins daraus klingt in die feuchte dunkle
Nacht.
Da liege ich still allein, gewickelt in diese vielfachen schwarzen Tücher der
Finsternis, Langeweile, Unfreiheit des Winters – und dabei klopft mein Herz von
einer unbegreiflichen, unbekannten inneren Freude, wie wenn ich im strahlenden
Sonnenschein über eine blühende Wiese gehen würde. Und ich lächle im Dunkeln dem
Leben, wie wenn ich irgendein zauberhaftes Geheimnis wüsste, das alles Böse und
Traurige Lügen straft und in lauter Helligkeit und Glück wandelt. Und dabei
suche ich selbst nach einem Grund zu dieser Freude, finde nichts und muss wieder
lächeln über mich selbst.
Ich glaube, das Geheimnis ist nichts anderes als das Leben selbst; die tiefe
nächtliche Finsternis ist so schön und weich wie Sammet, wenn man nur richtig
schaut. Und in dem Knirschen des feuchten Sandes unter den langsamen schweren
Schritten der Schildwache singt auch ein kleines schönes Lied vom Leben – wenn
man nur richtig zu hören weiß.
In solchen Augenblicken denke ich an Sie und möchte Ihnen so gern diesen
Zauberschlüssel mitteilen, damit Sie immer und in allen Lagen das Schöne und
Freudige des Lebens wahrnehmen, damit Sie auch im Rausch leben und wie über eine
bunte Wiese gehen. Ich denke ja nicht daran, Sie mit Asketentum, mit
eingebildeten Freuden abzuspeisen. Ich gönne Ihnen alle reellen Sinnesfreuden.
Ich möchte Ihnen nur noch dazu meine unerschöpfliche innere Heiterkeit geben,
damit ich um Sie ruhig bin, dass Sie in einem sternbestickten Mantel durchs
Leben gehen, der Sie vor allem Kleinen, Trivialen und Beängstigendem schützt.
Rosa Luxemburg, Brief an Sonia Liebknecht
Gefängnis Breslau, Mitte Dezember 1917 |